ES MUSS NICHT IMMER BEETHOVEN SEIN
Anmerkungen über das inadäquate Problematisieren
legasthener Sprachvielfalt




Sprachunterricht, der es versteht, Schwierigkeiten und damit verbunden spezielle Lernbedürfnisse von SchülerInnen zu orten und zu berücksichtigen, weiß sich in konsequenter Regelmäßigkeit mit spezifischen legasthenen Problemen konfrontiert.

Zwischen 10% und 15% der Bevölkerung leiden (sic!) an Dyslexia bzw. Dyskalkulia. Umgerechnet auf eine durchschnittliche KlassenschülerInnenzahl von 30 SchülerInnen hieße das, wie die Statistik gnadenlos errechnen lässt, dass zwischen 3 und 4,5 Kinder einer Klasse legasthen sind. Dieser Prozentsatz entspricht, was bei Statistiken nicht immer der Fall zu sein pflegt, der empirischen Wirklichkeit. Insbesondere in den Unterstufen ist dieser Wert in keinster Weise als zu hoch angesetzt zu betrachten.

In der pädagogischen Alltagspraxis bedeutet dies, bei durchschnittlich 3-5 Kindern einer Klasse, mathematische Ungenauigkeiten werden großzügig in Anspruch genommen, bestünde insbesondere im Sprachunterricht der Bedarf einer Didaktik unter besonderer Berücksichtigung spezifischer legasthener Bedürfnisse und legasthenieadäquater Methodik.

Besondere Bedürfnisse erlauben, wie in anderen Bereichen des Lebens, so auch im schulischen Alltag zwei prinzipielle Möglichkeiten eines Antwortmusters.

Die „normative Enge“ lässt Wege gehen, deren oberstes Ziel die möglichst umfassende und detaillierte Beherrschung der Rechtschreibung und der Lesefertigkeit bilden, gleichsam kompromisslos, ohne Rücksicht auf Verluste. Wer das Spiel der Einhaltung von Normen in den Kulturtechniken des Lesens, Schreibens oder Rechnens nicht erlernt, dem ist in der Folge der Zugang zu höheren Bildungsmöglichkeiten verwehrt. Der Begriff „Verlust“ muss dabei hier in durchaus vielfältiger Weise und in verschiedenen systemischen Bereichen interpretiert werden.

Zu denken ist an die persönlichen Verluste wie mangelnde Erfolgsmotivation, negative Erwartungshaltungen und misserfolgsgeprägte Lernmotivation, die auch bei dem neugierigsten, lernbegeistertsten Kind über kurz oder lang die Mutation zu einem Nullenthusiasten allen schulischen Lernens riskiert.

Auf familiärer Basis entwickelt sich nicht selten der Verlust eines adäquaten Familienklimas bzw. einer positiven Eltern-Kind-Beziehung. Das Lern“defizit“ verschärft sich zum Destructor.

Auf einer gesellschaftlichen und ökonomischen Ebene gilt es an den Verlust von „human ressources“ zu denken, den eine Gesellschaft erfährt, wenn ein nicht unwesentlicher Teil der Talente einer Bevölkerungsgruppe, die sich neben „Teilleistungsproblemen“ auch durch eine Reihe besonderer Begabungen und Fähigkeiten auszeichnet, gleichsam brach liegen und ungenutzt bleiben, so LegasthenikerInnen eine höhere adäquatere Schulbildung aufgrund dieses eines Defizits verwehrt bleibt.

In diesem Sinne werden diverse mit Legasthenie befasste Organisationen nicht müde, immer wieder auf berühmte LegasthenikerInnen aus den Bereichen Kunst, Kultur und Wissenschaft zu verweisen. Sozusagen untern den Top 10 bzw. 15 der LegasthenikerInnen finden sich u.a. Albert Einstein, Thomas A. Edison, Hans Christian Andersen, Walt Disney, Whoopi Goldberg, Samy Molcho, John Lennon, Niels Bohr und für Society-TigerInnen seit kurzem auch offiziell Schwedens König Karl Gustav und seine älteste Tochter Victoria. Agatha Christie schrieb über sich selbst: „Writing and spelling were always terrible difficult for me. My letters were without originality, I was an extraordinary bad speller and have remained so until this day.”

Unter budgetären Aspekten betrachtet, erlaubt eine Haltung „normativer Enge“ bis kompletter Ignoranz zwar die Einsparung budgetärer Mittel für spezielle Förderungsmaßnahmen, weil diese kurzerhand zur Nichtnotwendigkeit erklärt werden, langfristig kalkuliert kann diese Rechnung aber in einen kräftigen Minusbereich rutschen, verursacht durch die Ausblendung und Nichtnutzung „legastheniespezifischer Talente“. Demgegenüber verstehen es beispielsweise vereinzelte IT-Unternehmen die Stärken von LegasthenikerInnen erfolgreich zu nutzen und suchen ganz gezielt legasthene Menschen als MitarbeiterInnen.

Die normative Einengung, als ein mögliches Antwortmuster auf legasthene Probleme, erweist sich in Summe in mehrerlei Hinsicht als ineffizient.

Demgegenüber sucht eine offenere Haltung die Schwierigkeiten beim Erlernen der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und teilweise auch des Rechnens nicht zu verleugnen oder zu verschweigen, sondern einen kreativeren Zugang zu und adäquatere Umgangsweisen mit diesem Phänomen.

In diesem Sinne akzentuiert man im angloamerikanischen Raum viel mehr eine Grundhaltung, die mit dem Impuls und der Aufforderung „Dyslexia as a gift“ zu verstehen, wesentlich zu einem entspannteren und effizienteren Umgang mit Lese- und Rechtschreibschwächen beiträgt.

Ohne mit dieser Zugangsweise Gefahr laufen zu wollen, in blanken Zynismus zu verfallen und die Schwächen in Stärken umzuinterpretieren oder als solche schönzureden, ermöglicht eine offenere Sichtweise im Sinne „as a gift“ eine ganz wichtige Fokussierung der Stärken legasthener Menschen. Ihre Begabungen liegen verstärkt in einer ausgeprägten Kreativität und Phantasie, in künstlerischen Fähigkeiten, in starker Intuition, in schnellem Denken, umfassenden, komplexen Sichtweisen und einer bemerkenswert hohen Auffassungsgabe insbesondere in technischen Bereichen.

„Legastheniker entwickeln eine ganz bestimmte Intelligenz. Sie suchen Lösungen. Das macht kreativ. [...] weil ich dreidimensional und in Bildern denke. Diese Art zu denken entspricht übrigens vollkommen meiner Arbeit auf der Bühne. [...] Unser Problem ist eigentlich gar keins. Sondern eine außergewöhnliche Begabung. Das lineare Denken der anderen hat uns zu Problemfällen gemacht. [...] Gemessen wird an einem digitalen Programm. Ein Buchstabe folgt dem anderen - wie langweilig. Dreidimensional zu denken bedeutet, eine andere Auffassung von den Dingen und der Welt und ihren Möglichkeiten zu haben. [...] Wenn ein Schulsystem einen Legastheniker nicht blockiert, ist er meistens kreativ, erfolgreich, ein Künstler. [...] Die Schule muss ihm aber vor allem bewusst machen, daß er Begabungen hat, die weit größer sind als die so genannten Fehler.“ Im Gespräch: Samy Molcho mit Monika Goetsch 1

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Talente verlieren die Schwächen an der für den Schulalltag oft üblichen Relevanz, insbesondere wenn die Institution Schule ihren Beitrag leistet und ihre Möglichkeiten nutzt, adäquate Rahmenbedingungen für LegasthenikerInnen zu schaffen. Im Sinne einer psychohygienischen „Umwegrentabilität“ können dann Talente gepflegt, Erfolgserlebnisse erfahrbar und gesundes Selbstwertgefühl entwickelt werden.

Geht man davon aus, dass legasthene Probleme ihre Wurzeln u.a. in einer besonderen Art der Wahrnehmung haben, so verstärkt das einerseits das Verständnis für die Tatsache, dass in künstlerischen Berufen, aber auch in jenen der Informationstechnologien eine hohe LegasthenikerInnenquote zu beobachten ist, andererseits verstärkt die Kenntnis über die Genese legasthener Probleme und der damit verbundenen Stärken auch die Einladung zu einer offeneren, entspannteren Sichtweise.

Legasthene Menschen zeichnen sich nicht nur durch eine spezielle Art der Wahrnehmung aus, sondern oftmals durch einen sehr spezifischen Zugang zu dem, „was richtig und was falsch ist“.

„Was ist wirklich richtig und was ist falsch?“ diese erkenntnistheoretische Frage ist nur in oberflächlicher „Fastthink“weise klar zu lösen. Differenziertes, nuanciertes Denken kommt bei dem, was falsch und was richtig sei, schnell an Grenzen, an relativierende Wenn und Aber.

„Woher wissen Sie, dass ich nicht weiß, wie man „lundi“ schreibt? Vielleicht habe ich „ludi“ geschrieben, weil ich nur schauen wollte, wie genau Sie korrigieren, oder vielleicht habe ich „vous pouve“ geschrieben, weil das „z“ nicht so wichitg ist, und ob „j’ai, chez oder je“ ist doch auch nicht ganz so wichtig, denn im Zusammenhang weiß der/die andere ohnehin, was gemeint ist.“

Wozu eine „genormte“ Rechtschreibung erlernen, wenn man seine eigenen Schreibweisen schaffen kann? Wozu ein und dasselbe Wort immer in der gleichen Weise schreiben, wenn es sich doch orthographisch verschieden darstellen läßt (Fuchs, Fucks, Fux, Fugs) und man trotzdem verstanden wird? Wozu alle Energie aufwenden um „richtig“ zu schreiben?

Die Praxis zeigt, dass LegasthenikerInnen häufig die Welt mit ihren Problemlösungsstrategien und Normen als mühsame Anforderung und sinnlose Provokation erleben. Aus dem Blick des Kindes wäre es energetisch effizienter, wenn jede/r so schreibt wie er/sie will. Legasthene Kinder bieten ja zudem auch sinnvolle Lösungen - Behthoven, Beethofn, Bedhofenn - in ihrem jeweiligen individuellen Kontext. Rechtschreibschwäche kann unter diesem Aspekt somit auch als eine andere Form von „Richtigkeit, in der Welt zu sein“ verstanden werden und weniger „objektivierend“ als Defekt.“ 2

Gelegentlich hilft es entscheidend bei der Betreuung legasthener Kinder, explizit auf die Problematik komplett individualisierter Rechtschreibung und auf die Notwendigkeit einer normierten Rechtschreibung als Bedingung der Möglichkeit gemeinsamer Kommunikation hinzuweisen, indem die Relevanz normierter Sprachkultur erfahrbar gemacht wird. So erweist es sich als hilfreich, einen einfachen Text stark verzerrt mit vielen individuellen Rechtschreibweisen anzubieten, um die damit verbundene Kommunikationserschwernis bzw. Verunmöglichung erfahrbar zu machen und so zu einer Akzeptanz der Sinnhaftigkeit allgemeiner Rechtschreibkonventionen hinzuführen.

Oft lernen Kinder aufgrund der beschriebenen Relevanz-Erfahrung sprunghaft dazu und sind um eine „korrekte“ Rechtschreibung plötzlich sehr viel mehr bemüht, und das obwohl scheinbar „fast gar nichts“ passiert ist. Offenbar geht es aber gerade um dieses „Fast gar nichts“, um die Transparenz der Relevanz normierter Schreibkultur, um die Einsicht in den Konnex von „Wahr-nehmung“ und „Wahr-gebung“. 2

Unter Berücksichtigung kindlicher Denkweisen, des Hinterfragens von Normen, ihrer spielerischen Lust an eigener Sprachgestaltung, erweist sich auch beim Lernprozess des Lesens und Schreibens ein „dialogorientierter Ansatz“ als angebracht, der eine klare Wertschätzung gegenüber persönlichen Wort- und Sprachkreationen zeigt und diese als bereichernde Vielfalt zu würdigen und eigene Wortschöpfungen in den Lernprozess einer normierenden Rechtschreibkultur zu integrieren versteht. Ein integrativer Lernprozess sensibilisiert für die vielfältigen orthographischen Möglichkeiten, die prinzipiell zur Verfügung stehen, und für die Sinnhaftigkeit einer konventionellen „allgemeinen“ Lösung.

Ein didaktisches Arbeitsmittel wie „Lottes Buch der großen Vielfalt - Autorin: Die Sprach- und Wörterarchitektin Lotte M.“© spiegelt einen ganz anderen Zugang zum Erlernen von Rechtschreibung als ein traditionelles „Lottes Fehlerheft“, so die Beschriftung von Heften nicht zum Etikettenschwindel verkürzt wird, sondern tatsächlich eine Grundhaltung seitens der LehrerInnen bzw. TrainerInnen eingenommen wird, in der die Vielfalt als Ausdruck sprachlicher Eigenständigkeit existieren darf und nicht vom Radierer ausgelöscht wird, sondern vielmehr gleichwertig, aber nicht „gleichfunktional“ neben der Konvention bestehen kann. Denkt man an den Spaß, den Kinder beim Entwickeln von Geheimsprachen, Wortspielen, Reimen, „Wechstaben Verbuchseln“ haben, so wird zudem klar, dass ein Ausblenden spielerischen Sprachzuganges dem Erwerb persönlicher Sprachkultur und Kompetenz prinzipiell extrem zum Nachteil gereicht.

Eine „offene“ pädagogische Praxis, die um die Notwendigkeit sprachlicher Normen und um die Spezifitäten von LegasthenikerInnen und den damit verbundenen Schwächen beim Lesen, Schreiben und teilweise. Rechnen, aber auch um die Stärken legasthener Menschen weiß, entwickelt „schulverträgliche“ Umgangsformen mit Dyslexie und Dyskalkulie und eröffnet den betroffenen SchülerInnen und ihren betreuenden LehrerInnen adäquate Handlungsspielräume.

Eine wichtige, offizielle Anerkenntnis der Besonderheiten legasthener SchülerInnen, auch auf schulrechtlicher Basis, die Erlassmüden vielleicht aufs Erste nur eine mitleidige Reaktion in der Art „Papier ist geduldig“ entlocken mag, sich aber bei genauerer Durchsicht als wichtiges entschärfendes, äußerst hilfreiches Instrumentarium erweist, stellt der Wiener Legasthenieerlass aus dem Jahr 1998 bzw. 2002 dar.

Was vorerst nur wie ein trockener Erlass aussieht, bringt klar den Auftrag zum Ausdruck, legasthene Probleme bei der Leistungsbeurteilung zu berücksichtigen und ergänzende legasthenieadäquate Formen der Leistungsfeststellung abseits von schriftlichen Überprüfungen vorzusehen und durchzuführen. Weiters betont der genannte Erlass die Aufgabe der Schule und Eltern, legasthene Kinder bei der Ausbildung ihrer Lese- und Schreibkompetenz speziell zu fördern und zu unterstützen. In vielen Fällen wird ergänzend zu schulischen Unterstützungen eine regelmäßige qualifizierte Betreuung in Form eines gezielten außerschulischen Trainings notwendig. Der Anspruch auf eine Berücksichtigung legasthener Probleme in der Leistungsbeurteilung besteht somit auch nur dann, wenn entsprechende therapeutische Trainingsmaßnahmen nachgewiesen werden, damit eine optimale Förderung der Kinder in den basalen Kulturtechniken des Lesens und Schreibens gewährleistet wird.

Im Klartext ermöglicht dieser Erlass LehrerInnen, auch auf Basis offizieller Bestimmungen legasthene Spezifika adäquat in der schulischen Leistungsbeurteilung und Notengebung zu berücksichtigen. SchülerInnen und Eltern eröffnet er die Möglichkeit eines verbindlichen Anspruches auf eine legasthenieadäquate Leistungsbeurteilung.

Als qualitativ wertvoll kann die Betreuung legasthener SchülerInnen und ihrer Eltern im schulischen Rahmen u.a. dann betrachtet werden, wenn ausreichend Information, Beratung und ein Kooperationsnetz mit qualifizierten TrainerInnen angeboten werden können. Überzogene Erwartungen an schulische Unterstützungsmöglichkeiten sind dabei zu korrigieren und Alternativen außerschulischer ergänzender Förderung aufzuzeigen. Dabei bleibt es im Idealfall nicht beim Delegieren an SpezialistInnen, sondern es wird die Kooperation mit diesen und den betroffenen Kindern angeboten und gesucht.

Wenn ein entspannter Zugang zu den für LegasthenikerInnen mit besonderen Schwierigkeiten verbundenen Bereichen Lesen, Schreiben und teilweise auch Rechnen gewonnen werden kann und betroffene legasthene SchülerInnen einen Großteil ihrer Energie nicht in perfekte Rechtschreibkompetenz investieren müssen, sondern ihnen Raum für die Pflege ihrer spezifischen Stärken bleibt - darstellende und bildnerische Kunst, Informatik, soziale Kompetenz - wäre ein wichtiges Ziel effizienter Umgangsformen mit legasthenen Spezifika erreicht.

In diesem Sinne bleiben als Ziele einer zukünftigen legastheniesensiblen Sprachkultur und Sprachdidaktik ein größeres Verständnis für legasthene „Sprach- und WörterarchitektInnen“ und legasthene Sprachvielfalt sowie eine adäquate Akzeptanz legasthener Spezifika und damit verbunden die Betonung der Relevanz vermehrter methodischer Möglichkeiten, budgetärer Ressourcen inklusive, für eine Didaktik, die den speziellen Bedürfnissen und Lernweisen von LegasthenikerInnen angemessen entgegenzukommen vermag.


© Mag. Christine Wytrzens
Diplomierte Legasthenietrainerin ®

erschienen in: Festschrift 450 Jahre Akademisches Gymnasium Wien, 2004